Wie alles Soziale ist die Sozialpädagogik auf Zeit bezogen. Zeit ist eine Dimension sozialpädagogischen Handelns, sozialpädagogischer Forschung und Theoriebildung.

In der sozialpädagogischen Theoriebildung finden sich vielfältige und unterschiedliche Bezugnahmen auf Zeit: Zunächst kann nicht ohne historische Verhältnissetzungen erzählt werden, was Sozialpädagogik ist. Sie gilt als ein Projekt der Moderne. Seit den ersten Theoretiker*innen fußen Theorien über Sozialpädagogik auf Zeitdiagnosen (Compagna/Hammerschmidt/Stecklina 2022) und hier insbesondere auf sozialpädagogische Diagnosen von Gegenwart (Dollinger 2022). Mit den Beschreibungen einer zweiten Moderne bzw. reflexiven Modernisierung sind die jüngeren sozialpädagogischen Theoriebildungen unterlegt (Böhnisch 2012; Otto 2020). Ein digitaler Kapitalismus (Böhnisch/Schröer/Thiersch 2005) greift dabei im Besonderen die Zeitkategorie auf. Zeitdiagnosen bringen Gegenstandsbestimmungen hervor und zeugen davon, dass die Gegenstände der Sozialpädagogik zeitlich wandelbar sind (Hornstein 1995). Gesellschaftliche und politische Trends werden in Form von Gegenwartsdiagnosen sozialpädagogisch aufgegriffen und gestaltet.

Von Gegenwartsdiagnosen ausgehend, wird in der sozialpädagogischen Theoriebildung auf die zeitliche Kategorie des Alltags abgehoben, wenn „das Ringen um einen gelingenderen Alltag“ (Thiersch 2020, S. 60) als Ziel lebensweltorientierter Sozialer Arbeit formuliert wird oder soziale Dienste „der Regulierung und Gestaltung alltäglicher Lebensführung“ (Kessl 2013, S. 27) dienen. Menschen beziehen ihre zyklisch-alltäglichen Zeitordnungen auf ihre diachron-biografische; das Leben in der Breite und in der Länge werden miteinander verwoben (Kudera 2000). Mit dem Leben in der Länge sind des Weiteren die sozialpädagogischen Bezugnahmen auf die Biografie, eine Sozialpädagogik der Lebensalter oder der Übergänge (Hanses 2004; Haupert/Schilling/Maurer 2010; Böhnisch 2018; Schröer et al. 2013) aufgerufen.

In Reflexion lassen sich zeitliche Praktiken der Theoriebildung nachzeichnen, die einerseits die Herstellung von Diskursen durch die (Un-)Gleichzeitigkeit und das Nacheinander des Aufeinanderbeziehens meinen. Andererseits finden Theoriebildung und wissenschaftliche Tätigkeit insgesamt in biografischen Schaffensperioden, einem akademischen Alter, Beschäftigungs- und Qualifikationszeiten, etwa nach einem WissZeitVG, zeitliche Rahmungen.

Sozialpädagogische Praxen in den Handlungsfeldern und deren Beschreibungen – auch durch empirische Forschung – arbeiten ebenso unweigerlich mit Zeit und Zeitbegriffen: Hilfeprozesse haben eine Dauer; Arbeitsbeziehungen brauchen Zeit wie sozialpädagogische Arbeit Geduld oder einen langen Atem; junge Menschen werden um die Volljährigkeit aus Hilfen entlassen; … Es werden Fachleistungsstunden gewährt, Vollzeitäquivalente errechnet, 24/7-Dienste erbracht, Tagesabläufe strukturiert, Ferienfreizeiten durchgeführt, Ganztagesbetreuung/-bildung angeboten, Öffnungs-, Sprech- und Beratungszeiten festgelegt, ... Wenn überhaupt, tritt „Zeit als (knappe) Ressource sozialpädagogischen Handelns“ (Görtler 2020) hervor oder die Zeitbudgets der Helfenden bedingen eine Abkopplung der Hilfe vom Leiden (Wolff 1981, S. 217).

Kaum hinterlegt ist im sozialpädagogischen Diskurs ein Verständnis von Zeit im Sinne einer sozialen Herstellung von Zeit. So wurde der temporal turn der Sozialwissenschaften in der Sozialpädagogik weitaus weniger vollzogen als der spatial turn. Während letzterer einen deutlichen Niederschlag in Theorie, Forschung und Praxis gefunden hat, verbleibt Zeit als eine Dimension sozialer Praktiken (z.B. Schatzki 1996) in einem Schattendasein. Dabei meint ein Doing Time, dass zeitliche Strukturen produziert und reproduziert werden, wodurch ein dinghafter Zeitbegriff, der in Vorstellungen des Zeithabens, -gebens und -nehmens eingelagert ist, überschritten werden kann. Ein solches Zeitmachen ermöglicht einen Blick – und dazu lädt die Themenstellung der Kommissionstagung ein – auf die zeitliche Dimension jeglichen Handels in sozialpädagogischen Kontexten und damit auf eine Zeit*en gestaltende Sozialpädagogik als von handelnden Menschen gestaltete Zeit*en.

Mit verschiedenen weiteren theoretischen Zugängen zu „Zeit“ kann „Sozialpädagogik“ fruchtbar beobachtet werden: Zeit verstanden als zueinander relationierte Geschehnisabläufe (Elias 1990) eröffnet etwa, in historischer Perspektive danach zu fragen, welche Geschehnisse die Herausbildung der Sozialpädagogik oder einzelner ihrer Entwicklungen begleiteten. Im Zuge der Aufarbeitung sexualisierter Gewalt in Institutionen, wird erkennbar, dass sozialpädagogische Auseinandersetzungen und Selbstreflexionen in einer Gegenwart, Vergangenheiten und Zukünfte (stärker) in den Blick nehmen (müssen), als dies Gegenwartsdiagnosen erreichen. In einer zeitlichen Dimension sind (Dis-)Kontinuitäten von Gewalt, „Praktiken der Ein- und Ausschließung“ sowie „Teilhabe durch*in*trotz*Sozialpädagogik“ (Kommission Sozialpädagogik 2019; 2015) beobachtbar. Es kann nachgezeichnet werden, welche Gegenstände – wie etwa Bildung, Care, Raum, Inklusion, Digitalisierung – in welchen Zeiten gleichzeitig oder aufeinanderfolgend für Sozialpädagogik und ihre Akteur*innen relevant werden. Zugleich kann empirisch die Organisation des Alltags, von Übergängen und Biografien in sozialpädagogischen Praxisvollzügen als Doing Time untersucht werden. Die „Eigenzeit“ (Nowotny 1993) von Adressat*innen und Fachkräften können sowohl in biografischer als auch in zyklisch-alltäglichen Perspektiven nachvollzogen werden.

Die Kommissionstagung lotet sozialpädagogische Zeit*en und ein sozialpädagogisches Zeiten im Sinne eines Doing Time aus. In den verschiedenen Programmformaten wird der Themenstellung theoretisch, empirisch, historisch oder forschungsmethodologisch nachgegangen. In einer Geschichtswerkstatt sucht die Kommission auch nach ihren eigenen zeitlichen Verortungen.

Literatur

Böhnisch, L. (2012): Lebensbewältigung. In: Thole, W. (Hrsg.): Grundriss Soziale Arbeit. Ein einführendes Handbuch. 4. Aufl. Wiesbaden, S. 219-233.

Böhnisch, L. (2018): Sozialpädagogik der Lebensalter. Eine Einführung. 8. Aufl. Weinheim/Basel.

Böhnisch, L./Schröer, W./Thiersch, H. (2005): Sozialpädagogisches Denken. Wege zu einer Neubestimmung. Weinheim/München.

Compagna, D./Hammerschmidt, P./Stecklina, G. (2022): Einführung: „In welcher Welt leben wir?“ Soziale Arbeit und Zeitdiagnosen. In: dies. (Hrsg.): In welcher Welt leben wir? Zeitdiagnosen und Soziale Arbeit. Weinheim/Basel, S. 9-28.

Dollinger, B. (2022): Zeitdiagnosen in sozialpädagogischen Theorien. In: Compagna, D./Hammerschmidt, P./Stecklina, G. (Hrsg.): In welcher Welt leben wir? Zeitdiagnosen und Soziale Arbeit. Weinheim/Basel, S. 143-159.

Elias, N. (1990): Über die Zeit. Arbeiten zur Wissenssoziologie II. 3. Aufl. Frankfurt am Main.

Görtler, M. (2020): Zeit als (knappe) Ressource sozialpädagogischen Handelns: Eine empirische Untersuchung zur Bedeutung von Zeit in der sozialpädagogischen Praxis. In: Diskurs Kindheits- und Jugendforschung 15 (1), S. 109-113.

Hanses, A. (2004): Biographie und soziale Arbeit: institutionelle und biographische Konstruktionen von Wirklichkeit. Baltmannsweiler.

Haupert, B./Schilling, S./Maurer, S. (Hrsg.) (2010): Biografiearbeit und Biografieforschung in der Sozialen Arbeit. Beiträge zu einer rekonstruktiven Perspektive sozialer Professionen. Bern u.a.

Hornstein, W. (1995): Zur disziplinären Identität der Sozialpädagogik. In: Sünker, H. (Hrsg.): Theorie, Politik und Praxis Sozialer Arbeit. Einführungen in Diskurse und Handlungsfelder der Sozialarbeit/Sozialpädagogik. Bielefeld, S. 12-31.

Kessl, F. (2013): Soziale Arbeit in der Transformation des Sozialen. Eine Ortsbestimmung. Wiesbaden.

Kudera, W. (2000): Lebenslauf, Biographie und Lebensführung. In: Kudera, W./Voß, G. G. (Hrsg.): Lebensführung und Gesellschaft. Beiträge zu Konzept und Empirie alltäglicher Lebensführung. Opladen, S. 109-130.

Kommission Sozialpädagogik (Hrsg.) (2015): Praktiken der Ein- und Ausschließung in der Sozialen Arbeit. Weinheim/Basel.

Kommission Sozialpädagogik (Hrsg.) (2019): Teilhabe durch*in*trotz Sozialpädagogik. Weinheim/Basel.

Nowotny, H. (1993): Eigenzeit. Entstehung und Strukturierung eines Zeitgefühls. Frankfurt am Main.

Otto, H.-U. (Hrsg.) (2020): Soziale Arbeit im Kapitalismus. Gesellschaftstheoretische Verortungen – professionspolitische Positionen – politische Herausforderungen. Weinheim/Basel.

Schatzki, T. R. (1996): Social Practices: A Wittgensteinian Approach to Human Activity and the Social. New York.

Schröer, W./Stauber, B./Walther, A./Böhnisch, L./Lenz, K. (Hrsg.) (2013): Handbuch Übergänge. Weinheim/Basel.

Thiersch, H. (2020): Lebensweltorientierte Soziale Arbeit – revisited. Weinheim/Basel.

Wolff, S. (1981): Grenzen der helfenden Beziehung. Zur Entmythologisierung des Helfens. In: von Kardorff, E./Koenen, E. (Hrsg.): Psyche in schlechter Gesellschaft. München/Wien/Baltimore, S. 211-238.